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3. Berufsnotorische BesserwisserSpektrum
Der Rezensent, Egbert Scheunemann, betont zu Beginn seiner
Ausführungen, das Buch „Vom Urknall zum Durchknall“ sei in
einem seriösen Verlag erschienen. Das ist ganz wichtig für
ihn, den Philosophen, denn wenn ein seriöser Verlag das
Pamphlet eines studierten Physikers und praktizierenden
Gymnasiallehrers herausbringt, dann ist das ja ein
Gütesiegel. Vor allem für Scheunemann, der schreibt, wie
sehr er Unzickers Ansichten teile. Denn indirekt werden so
auch seine eigenen Ansichten wissenschaftlich aufgewertet.
Was auch immer der Grund gewesen sein mag für den Verlag,
das Buch zu verlegen, mag dahingestellt sein – welcher
Wissenschaftsverlag will schon einfach nur Geld verdienen?
Was mich hier viel mehr interessiert ist, wieso das SPEKTRUM
das Buch eines berufsnotorischen Besserwissers (Lehrer
?)
durch einen zweiten (Philosoph) rezensieren lässt, der
selbst keine physikalische Meriten hat und ein erklärter
Gegner Einsteins ist.
Scheunemanns eigenes Buch „Irrte Einstein?“ /1/ mit seinen
ellenlangen Widerlegungen von Zeitdilatation,
Längenkontraktion und Zwillingsparadoxon ist insbesondere
beliebt bei denen, die gegen die vermeintliche
Wissenschaftsmafia anrennen. Sie behaupten, diese Mafia
verträte seit einem Jahrhundert Einsteins offensichtlich
falsche Theorien und mobbe Kritiker permanent aus dem
Wissenschaftsbetrieb heraus. Es ist populär geworden, gegen
eine „Wissenschaftsmafia“ anzurennen, ob Klimaskeptiker,
Anti-Darwinisten oder eben die Feinde Einsteins. Trotz
seiner Liebesschwüre in Richtung Physik übernimmt Unzicker
diese unselige Terminologie /2/. Bei aller Liebe zu farbigen
Ausdrücken und unterhaltsamen Formulierungen ist dies die
Stelle, an der sich die (Natur-) Wissenschaftsskeptiker
jeglicher Couleur zufrieden einklinken können.
Genussvoll zitiert Scheunemann Unzicker: „Wenn nach dem
Äquivalenzprinzip aber Schwerefeld und Beschleunigung gleich
zu behandeln sind, dann müssten in einem Gravitationsfeld
ruhende Ladungen ‚einfach so’ Energie abstrahlen – ein nicht
ganz geklärtes Problem.“ Würde dieses Problem wirklich
existieren (tut es nicht), wäre Einsteins ART vollkommen
gescheitert, denn er hatte sie zunächst genau deshalb
entwickelt, um elektromagnetische und mechanische Phänomene
in beschleunigten Bezugssystemen zu beschreiben, nicht als
neue Gravitationstheorie. Dies ist ein alter Trick der
Einsteinhasser: Nimm eine zentrale Aussage und „beweise“,
dass sie „offensichtlich“ falsch ist. So wird selbst die
Faraday’sche Unipolarmaschine weiterhin gerne als
Widerlegung der Speziellen Relativitätstheorie angeführt,
obwohl sich schon Richard Feynman vor einem halben
Jahrhundert in seinen berühmten Vorlesungen der Widerlegung
der Widerlegung gewidmet hatte.
Ergo, wer sich das Unzicker-Buch kauft, weil es von einem
Besserwisserverlag verlegt und einem zweiten toll rezensiert
worden ist, der wird wahrscheinlich schwer enttäuscht
werden. Denn es enthält physikalisch und konzeptionell
nichts Neues. Ist der Ärger über das unnötig ausgegebene
Geld aber erst mal verraucht und man beginnt sich zu fragen,
warum Unzicker denn überhaupt so unzufrieden ist, dann
materialisiert sich vielleicht doch noch eine Erkenntnis.
Ästhetische Überlegungen spielten in der Theorienbildung der
Physik immer eine große Rolle. Aber so wie die Kunst des 20.
Jahrhunderts den intuitiven Kunstbegriff des „Schönen und
Guten“ lange hinter sich gelassen hat, hat sich der Begriff
des Ästhetischen in der Physik gewandelt oder gar ganz
verflüchtigt. Theoretische Physik ist schon lange Avantgarde
und längst nicht einfach mehr nur schön anzusehen. Das
treibt Gymnasiallehrer und Philosophen natürlich auf die
Palme /3/.
/1/
http://www.egbert-scheunemann.de/Relativitaetstheorie-Buch-Scheunemann-Version-1-Zusammenfassung.pdf
/2/ Kapitel 14: Abschied von der Wissenschaft. Stringtheorie
und andere Religionsanhänger. Oder: Von der Elite zur Sekte
zur Mafia
/3/ Auch forschende Physiker mit Liebe zur Kunst und
klassischem Ästhetikverständnis haben hier ihre Probleme,
beispielsweise Mario Livio („The Accelerating Universe“).
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Anmerkungen zum Leserbrief (27.12.2011)
Spektrum. Erschienen bei Spektrum.de
als 3. Leserbrief zu
E. Scheunemanns Rezension des Buchs "Vom Urknall zum Durchknall" |
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Unzickers Buch hatte mich zu der Besserwisser-Überschrift
inspiriert. In seinem Buch schreibt Unzicker,
Lehrer hätten den Ruf, "vormittags Recht und nachmittags frei"
zu haben (S. 319, "Vom Urknall zum Durchknall", Springer-Verlag,
korrigierter Nachdruck 2010, ISBN 978-3-642-04836-4).
Diese
vermeintliche Selbstironie Unzickers ist für mich allerdings
nichts weiter als
Teil einer Immunisierungsstrategie, mit der er sich vor
Kritikern schützen will. Denn auf jeder Seite seines Buches
positioniert er sich als Besserwisser. Er lehnt nicht nur die in
den 1980er-Jahren aufgekommene Stringtheorie ab, wie viele
seiner Rezensenten meinen, und so wie der (ehemalige)
Stringphysiker Lee Smolin, den er dauernd zitiert; nein,
Unzicker weiß, dass alles noch viel schlimmer ist und des Übels
Wurzel viel, viel tiefer sitzt. Tatsächlich belegt sein
Buch, dass er die moderne Physik seit dem 2. Weltkrieg als
Ganzes im Wesentlichen ablehnt. Er hat grundsätzliche Probleme
mit der "pragmatischen" Physik, die seiner Ansicht nach
die Physik dominiert, seitdem Physiker vor
den Nazis in die USA geflüchtet waren: "Obwohl viele führende
Köpfe der Physik in die USA emigrierten, gelang es ihnen dort
nicht, eine wissenschaftliche Kultur der grundlegenden Fragen
wie im Europa der Vorkriegszeit zu etablieren." (S. 305, ebd)
Eine Aussage, die nicht einmal ansatzweise belegt werden kann.
Und weiter (S. 306, ebd): "Insgesamt kann man wohl die
Beiträge zur Physik der alten und neuen Welt gewichten wie jene
der Griechen und der Römer zur Philosophie."
Unzickers Buch handelt somit nicht
von Physik, sondern sollte als rückwärtsgewandtes,
kultur-chauvinistisches Pamphlet bewertet werden. |
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